Mal wieder ein Crash. Ich hatte zwei Tage Besuch, es war sehr schön. Wir haben erzählt, wie es uns so geht, nichts Spektakuläres. Abends spürte ich von einem Moment auf den nächsten ein seltsames Flattern unter der Schädeldecke. Dann konnte ich dem Gespräch nicht mehr folgen. Overflow. Offenbar keine Energie mehr in den Nervenzellen, Feierabend. Ich ging ins Bett und schlief elf Stunden.
Am nächsten Morgen ging gar nichts mehr. Keine Kraft, keine Konzentration, ich konnte kaum noch sitzen. Also weiter schlafen.
Nun drei Tage später. So langsam erhole ich mich. Das war ein Schlag, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Ja klar, ich muss meine Bewegungen einteilen und begrenzen. Ich muss meine Konzentration limitieren. Ich muss bei heftigen Emotionen und Konflikten aufpassen. Und jetzt muss ich auch noch bei gewöhnlichen Gesprächen mit Überlastungen rechnen? Waren zwei Tage zu viel? Ist ein Tag sicher? Oder nur ein halber?
Das letzte halbe Jahr war hart. Wenige Begegnungen, manchmal nur eine pro Woche. Ich hab mich riesig darauf gefreut, dass jetzt alles wieder lebendiger wird. Frühling, Wärme und Corona wird auch endlich unwichtiger. Und nun das! Als würde irgend eine Instanz alles sabotieren, was mir noch Freude und Hoffnung geben kann. Was soll der Quatsch?
Im Grunde hab ich jetzt zwei Hypothesen:
- Es gibt keinen Sinn, ich hatte einfach Pech. Siehe mein Beitrag neulich. In den Selbsthilfegruppen geht es vielen ME/CFS-Kranken genauso, das ist halt die Eigenheit dieser Krankheit. Alles was ich tun kann, ist es zu akzeptieren und sorgfältig weitere Crashes vermeiden. Und darauf hoffen, dass es vielleicht doch irgendwann ein verfügbares Heilmittel gibt.
- Es gibt tatsächlich diese Instanz, die Freude, Hoffnung und Leichtigkeit sabotiert. Es ist der Teil in mir, der schon immer Angst vor dem Leben hatte. Ja, es gibt schöne Momente, ich hatte viele davon. Aber immer bestand gefühlt die Gefahr, dass ich dafür einen Preis bezahlen muss. Memento mori!
Dieser Teil in mir fährt die Strategie, dass ich nicht übermütig werden darf. Dass ich unter dem Radar bleiben muss, um Strafe zu entgehen. Vielleicht hat dieser Teil ME/CFS eingeladen und hält es aktiv: ‚Beweg dich nicht, mache nichts Auffälliges, atme nicht zu viel, verlange nichts, dann sehen sie dich nicht.‘ Würde gut passen.
Die Preisfrage ist, wovor mich dieser Teil beschützen will. Was soll noch Schlimmeres passieren als diese Krankheit? Und was hat das Leben mir getan, dass ich so viel Angst vor ihm hab?
Welcher Hypothese folge ich?
Bleibe ich vorsichtig und akzeptiere die Limits?
Oder konfrontiere ich den alten Beschützer-Teil, der seinen Job so übertreibt?
ME/CFS ist keine psychische Krankheit. Die Mitochondrien haben ihre Struktur verloren. Die Steuerung der Gefäßweite läuft paradox, die Kapillare verklumpen. Nach einem Crash dauert es Tage bis Wochen, bis die Zellen genug ATP nachproduziert haben. Das ist mit einigen Studien belegte Realität.
UND es ist – zumindest in den ersten Jahren – keine primär degenerative Erkrankung. Wenn man das Immunsystem auf ‚Pause‘ schaltet, erholen sich offenbar die Mitochondrien innerhalb weniger Tage, und die Krankheitssymptome verschwinden. ME/CFS wird anscheinend pausenlos vom Immunsystem aktiv aufrecht erhalten.
Das ist ärgerlich, aber es öffnet ein Fenster: Das Immunsystem kann beeinflusst werden. Durch Ruhe, durch Schlaf, durch Meditation. Das nutze ich tatsächlich, auch wenn der Effekt nur sehr begrenzt ist. Auf eine mögliche medikamentöse Einwirkung muss ich noch warten.
Könnte es sein, dass ich auf einer tiefen Ebene die Notwendigkeit der Krankheit beseitigen könnte, indem ich überholte Kindheitsmuster bewältige? Dass das Immunsystem sich dann beruhigen könnte? Es gibt seit zwei Wochen eine Spur, der ich folge, eine spannende Methode, daran zu arbeiten und jemanden, der mir dabei helfen würde.
Aber die Arbeit an solchen Mustern ist enorm anstrengend. Emotional, kognitiv und körperlich. Wenn man solche alten Schutzmechanismen konfrontiert, wehren sie sich mit allem, was sie haben. Hab ich die Kraft dafür? Oder würde ich dabei völlig abrutschen und als Pflegefall enden wie schon viele andere Patienten nach der gut gemeinten Reha?
Lieber jahrelang weiter leiden und möglicherweise dabei immer enger und kleiner werden? Oder springen und entweder gesünder werden oder richtig abrutschen? Das wäre russisches Roulette. Da bin ich ja gar nicht der Typ dafür…
Hatte ich den Crash, weil das alte Muster spürt, dass es ihm an den Kragen gehen könnte? Oder weil ich mich mit der Arbeit daran überlastet hab? Oder war es nur Zufall? Das ist das Problem mit der Arbeit an der Psyche: Man hat nie Gewissheit…