Die Tage hat mir Beatrice, eine Freundin, die auch ME/CFS hat, eine exzellente Metapher (und die charmante Zeichnung unten) geschickt:
Das mit der Energie bei uns ist wie mit einem Brunnen: Das Wasserschöpfen ist nicht das Problem, das können wir. Wenn da unten aber gar kein Wasser mehr ist? Dann müssen wir warten, bis langsam Grundwasser nachgesickert ist. Darauf haben wir keinen Einfluss, und so lange leiden wir Durst.
Wasser ist essenziell.
Ohne Wasser kein Leben. Da helfen auch Glaube, Hoffnung, Meditation nicht weiter.
Und exakt so ist es auch mit der Energie.
Über die Weihnachtstage hatte mein gesundheitlicher Abwärtstrend gestoppt. Da ist wieder ein winziges Bisschen mehr Wasser im Brunnen. Dabei hab ich mich gar nicht anders verhalten. Egal, ich nehme es gerne mit und versuche, aufkeimende Hoffnung in Zaum zu halten.
Nachtruhe
Wenn man schlecht schläft, ist eine ruhige Umgebung besonders wichtig. Das war bisher nicht wirklich der Fall in einem dermaßen hellhörigen Gebäude. Manchmal verstehe ich halbe Sätze durch die Decke oder die Wand durch, wenn die Nachbarn sich ganz normal unterhalten. Vielleicht sollte ich doch in das andere Zimmer drüben umziehen?
Als es Montag Abend mal wieder rundum sehr lebhaft zugeht, schaffe ich spontan drüben Platz, packe meine Matratze und meinen Krempel und trage alles rüber.
In der Nacht schlafe ich dann leider noch schlechter, weil die abendliche Anstrengung Stress ausgelöst hat. Aber es ist akustisch viel ruhiger! Das will ich weiter testen.
So ein Tag mit morgens wenig Energie ist schon mal okay. Das Problem: Die nächste Nacht wird die Sylvesternacht sein! Da ist es überall laut. Und zwei schlechte Nächte hintereinander werden gefährlich: Das kann einen erneuten Abwärtsstrudel auslösen.
Sylvester
Also mache ich halt noch langsamer als sonst. Ich baue einen Mittagsschlaf ein.
Gegen 17:30 Uhr fliegen draußen schon Böller und Raketen umher. Eigentlich ärgert mich das. Aber das Abendlicht ist wunderschön, die Venus leuchtet unbeeindruckt im Westen. Also nutze ich die Gelegenheit und mache noch ein paar Fotos.
Lustig, wie der Feuerwerkstern über den Dächern strahlt wie der Herrnhuter Stern über Nachbar’s Terrasse. Gegen acht Uhr meditiere ich ein bisschen, mache die Ohrstöpsel rein, lege mich hin und hoffe das Beste.
Um 23:50h wache ich wieder auf. Draußen schwillt der Lärm an, Blitze zucken durch den halb runter gelassenen Rolladen. Ich schaue auf meine Uhr und sie zeigt mir: 30% Energie! Super, nach nur drei Stunden Schlaf! Das ist mehr als ich gehofft hatte. Wach bin ich eh, also stehe ich auf, stelle die Kamera wieder auf den Balkon und fotografiere.
Hoch oben im Süden steht Orion am Himmel. Unten die Häuser. Und dazwischen tobt das Feuerwerk. Es ist nicht zu nah, die Luft ist nicht kalt und mit den Ohrstöpseln geht das ganz gut. Ich genieße es richtig! Gemütlich im Sitzen drücke ich immer wieder den Knopf auf dem Fernauslöser der Kamera. Bequemer kann man wirklich nicht fotografieren.
Nach einer halben Stunde wird die Luft immer staubiger und kratzt im Hals. Ich packe zusammen und lege mich wieder hin. Schön wars!
Neujahr Morgen
Ich schlafe recht lange. Als ich aufwache, fühle ich mich gut. Die Uhr meldet mir 55% Energie! So viel hatte ich schon länger nicht mehr. Ich bin sooo erleichtert, dass Sylvester nicht schief gegangen ist!
Ich stehe auf und beginne den Tag. Und werde immer quirliger. In meinem Kopf arbeitet plötzlich wieder ein Multitasking-Prozessor! Mein Körper fühlt sich richtig lebendig an! Ich räume etwas im neuen Schlafzimmer um, ich gehe mit dem Staubsauger durch, eine Ladung Wäsche ist parallel in der Maschine, ich telefoniere, lade die Fotos von letzter Nacht hoch, lade die Akkus von Smartwatch und Kamera auf, checke Mails und so weiter.
Wahnsinn! So ähnlich muss es sich anfühlen, wenn ein gesunder Mensch Koks schnupft!!!
Dabei weiß ich, dass dieser wilde Trip hier grade mal meinem Normalzustand noch im August entspricht.
Und das war ja auch schon nach dem Energieeinbruch Anfang Juli!
Und selbst davor war ich schon schwer krank!
Ich bin erschüttert. Das grade ist eine leise Ahnung davon, wer ich eigentlich bin. Das hier ist objektiv höchstens ein viertel Klaus, und ich flippe schon fast aus!
Mir wird klar, wie wenig dieses Energiesparhäufchen Elend der letzten Wochen mit mir als Mensch zu tun hatte. Es bestätigt mein Gefühl, dass man unterhalb eines bestimmten Energieniveaus nicht wirklich leben kann. Man ist zwar nicht tot, aber die Persönlichkeit, das Wesen, die Seele sind in ein schützendes Regal weggepackt, damit sie unter diesen Bedingungen nicht kaputt gehen. Es übernimmt ein gewissenhafter Mangelverwalter, der die Tage irgendwie heil über die Bühne bringt, bis irgendwann vielleicht wieder etwas Wasser im Brunnen ist. Ich bin ihm sehr dankbar, er macht gute Arbeit. Aber der Klaus fehlt mir so!
Gegen Abend werde ich doch müde. Ich spüre, wie mir all die Fäden, mit denen ich den Tag über hantiert und gearbeitet hab, wieder über den Kopf wachsen. Zeit für Feierabend.
Zweiter Januar
Die Nacht war unruhig. Ich hab mit all dem Schwung gestern auch deutlich mehr Kalorien verbraucht als sonst. Offenbar war da das Müsli abends zu wenig. Als ich heute relativ früh aufwache, ist mein Nacken verspannt, die Kiefermuskulatur schmerzt und der Magen grummelt. Laut Uhr hab ich mich ab fünf Uhr nicht mehr erholt. Der Unterzucker hat mir nicht gut getan.
Ich stehe auf, esse reichlich, dann fühle ich mich wieder besser. Und ich mache heute halt wieder langsam. Das ist okay. Man kann nicht jeden Tag Rock’n’Roll leben. Ich bin froh um die letzten Tage. Mal sehen, wie es weiter geht…
Ach ja, nicht dass ich’s noch vergesse:
Euch allen (und mir selbst) ein healthy new year !!!