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Schach1

Das Spiel des Lebens

Epilog

Vor kurzem hab ich die Netflix-Serie ‚das Damengambit‘ noch mal angeschaut. Hauptgrund war eigentlich, die außergewöhnlichen Farben darin zu verstehen. Wie schaffen die das, dass die Farben so entsättigt sind, aber die Blaugrün- und Orangetöne trotzdem so leuchten? Und die Stimmung so warm ist? Color Grading ist eine abgefahrene Wissenschaft! Viele Instagram-Nutzer werfen irgendwelche eingebauten Filter über ihre Fotos, damit die cooler aussehen. Ich möchte verstehen, was da genau passiert.

Das Ergebnis: Das mit den Farben hab ich immer noch nicht kapiert. Aber die Serie ist toll. Und ich bekam Lust, Schach zu spielen! Ich kramte die Figuren aus der Spielesammlung, die ich vor ein paar Jahren mal gekauft hatte. Ich weiß seit der Kindheit, wie die Figuren ziehen dürfen. Im Micky-Maus-Heft gab es mal ein Schachspiel zum zusammenbasteln, und da war auf jeder Figur eine Schemazeichnung drauf. Das hat echt funktioniert! Leider hilft das noch nicht, um sinnvoll spielen zu können. Und es gab damals niemanden, der mir etwas gezeigt hätte.

Muss ich überhaupt?

Ich hatte auch nicht wirklich viel Lust, weil mir das Spiel so brutal und kalt erschien. Schließlich geht es ja nur um Vernichtung. Das ist beim Tischtennis auch so, aber das war trotzdem lustig. Wer muss als nächstes den Ball aus Nachbar’s Garten holen? Oder ihn mit einem schnellen Spurt vor dem sicheren Tod im Gulli retten? Mit solchen Abenteuern kann das Schachbrett nicht aufwarten. Viel mehr als eine Handvoll lustloser Anläufe gab es also nicht über die Jahre.

Heute gibt es das Internet. Und Online-Seiten, wo man gegen den Computer spielen und während des Spiels kleine Tipps bekommen kann. Und es gibt youtube mit vielen richtig genialen Tutorials, z.B. diese hier:

Die GOLDENEN Eröffnungsregeln

Die GOLDENEN Eröffnungsregeln || Wie man eine Schachpartie eröffnet

Die GOLDENEN Mittelspielregeln

Die GOLDENEN Endspielregeln

Also machte ich mich dran. Das war vor etwa vier Wochen. Seither spiele ich jeden Tag ein, zwei Partien gegen den Computer oder mich selbst. Als Zeitvertreib. Und weil es halt doch gehaltvoller ist, als stundenlang Solitär zu spielen.

Und dann passierte Seltsames: Ich erlebe seither immer wieder Alltagssituationen, in denen ich Schachmotive wiedererkenne. Oder Filmszenen, die mich an strategische Züge erinnern. Ist das das erste Anzeichen von Wahnsinn? Ich sag nur ‚Schachnovelle‘! Inzwischen fange ich an, das Spiel zu mögen. Und ich staune, wie viel ich darin fürs Leben lerne! Deshalb hier meine persönliche

Liste der Schacherfahrungen, die mein Denken und Fühlen verändern

1. Verlieren gehört dazu.
Es kann nur einen Sieger geben, also gibt es auch einen Verlierer (wenn es nicht ein Remis gibt). Aber selbst die größten Profis haben keine Chance mehr gegen Schachcomputer. Auch sie verlieren immer wieder. Es ist keine Schande. Allenfalls eine Aufforderung zur Revanche, wenn man Lust hat. Verlieren ist kein Untergang, sondern ein Neuanfang.

2. Perspektive wechseln hilft.
Nach den Eröffnungszügen komme ich immer wieder in die Situation, dass mir nichts einfällt. Es gibt keine akute Bedrohung. Die Figuren stehen einigermaßen gut und decken sich gegenseitig, haben Raum. Auch der Gegner steht gut. Eigentlich kann ich mich mit jedem möglichen Zug nur verschlechtern. Ich fühle mich hilflos, überfordert, unterlegen.
Aber wenn ich die Lage des Gegners anschaue: Ihm geht es genauso! Gleiche Lage, auch er hat kaum gute Optionen. Ich stehe gar nicht schlechter! Das liefert noch keine gute Strategie, aber es rückt das Empfinden gerade.

3. Opfer?
Die Antwort auf diese eben beschriebene Lage im Schach: Es müssen Figuren fallen. Das Brett ist einfach zu voll, um etwas Konstruktives erreichen zu können. Man opfert Figuren. Ich bin aber kein Zocker. Ich sehe immer erst, was ich verlieren könnte, bevor ich auf mögliche Gewinne schaue. So wird man zwar alt, aber nicht reich, mächtig oder siegreich. Ein gutes Training also für einen Konfliktvermeider wie mich. ‚Warte nur, Welt, ich komme!‘
Was ich inzwischen begriffen hab: man spricht zwar von Opfern, aber eigentlich sind es Investitionen. Das klingt schon viel positiver. Die Kunst ist, zu erkennen, ob sich die Investition lohnen würde oder nicht.

4. Antifragiles Verhalten
Ein interessantes Motiv: Eine Figur ist konkret angegriffen. Man könnte sie natürlich panisch zurück ziehen, falls das möglich ist. Aber gäbe es vielleicht noch andere Optionen?
– Die bedrohte Figur mit einer anderen Figur decken und dabei auch noch seine eigene Stellung verbessern?
– Nach vorne ausweichen und damit selbst einen Angriff einleiten?
– Besonders unangenehm sind Gabelangriffe. Ein gegnerischer Springer bedroht z.B. zwei meiner Figuren gleichzeitig. Ich kann nicht beide weg ziehen, mindestens eine scheint verloren. Aber vielleicht kann ich eine der beiden so aus der Gefahr ziehen, dass sie gleichzeitig die andere bedrohte Figur deckt? Zwei Fliegen mit einer Klappe!
Zusammengefasst: kann man eine schlechte Lage zu seinem Vorteil machen? Muss ich Angst haben und weg laufen, oder lässt sich aus der Situation sogar noch etwas gewinnen?

5. Teamwork
Die Figuren auf dem Brett haben unterschiedliche Möglichkeiten. Eine Dame kann viel mehr als ein Bauer. Aber selbst eine Dame kann alleine wenig ausrichten. Ihre Angriffe sind von einem Team oft gut zu verteidigen. Und wenn sie fällt, ist das auch ein großer Verlust. Der Schlüssel liegt im Teamwork! Nur in Kombination können Figuren ihre Möglichkeiten entfalten. Kein Platz für Einzelkämpfer!

6. Relative Stärke
Sehr überrascht hat mich, wie sich die Bedeutung der Figuren im Spielverlauf ändert. Am Anfang können Türme und Dame wenig bewegen, weil viel zu viele Figuren im Weg stehen. Da ist ein Springer wirkungsvoller. Die Bauern sind wenig beweglich und stehen manchmal sogar den eigenen Figuren im Weg. Aber im Zweifel und im Zusammenspiel mit den anderen Figuren können sie selbst eine Dame schlagen. Und im Endspiel kann ein Bauer es vielleicht zur gegnerischen Grundlinie schaffen und in eine Dame umgewandelt werden!
Wir sind alle Individuen mit Stärken und Schwächen. Und manchmal braucht es genau mich, um etwas zu bewegen. Ich muss nicht alles können. Es reicht, wenn ich meine Möglichkeiten erkenne und im richtigen Moment gut nutze.

7. Chancen
Ich hasse Spiele wie Monopoly. Sehr schnell bekommt ein Spieler einen Vorteil. Und der baut sich automatisch immer weiter auf. Der berüchtigte Matthäus-Effekt. Eigentlich ist das Spiel gelaufen, und es wird – wenn man nicht der führende Spieler ist – ein quälend langer Niedergang. Okay, leider bildet das große Teile unserer kapitalistischen Gesellschaft ganz gut ab. Aber ist das Leben wirklich so?
Auch beim Schach kann sich ein sehr großer Vorteil für einen der beiden Spieler ergeben. Aber zumindest so lange keine Profis am Brett sitzen, kann oft ein einziger falscher Zug alles wieder drehen. Das hat mich echt überrascht. Die Lehre für mich: die Flinte nicht zu früh ins Korn werfen! Manchmal öffnen sich Chancen wie aus dem Nichts.

Schach2

Fazit

Es heißt immer, Schach wäre ‚das Spiel der Könige‘. Eigentlich ist das falsch. Es ist ‚das Spiel des Lebens‘. Leider haben sich die Erfinder damals im Mittelalter nicht die Namensrechte sichern lassen. 🙂

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