Vor einigen Wochen hatte ich hier ja schon einen Beitrag zum Thema „Gestaltung in der Fotografie„, und das Thema lässt mich nicht mehr los.
Wenn man Fotografieren lernen will, macht man fast unvermeidbar verschiedene Phasen durch:
- Die Kamera in den Griff bekommen, also die Technik.
- Entscheiden, welche Einstellungen für eine gegebene Situation gut passen, damit nachher das Wesentliche scharf und nichts verwackelt oder ausgebrannt ist. Das ist das Handwerk.
- Das Bild gestalten. Das fängt Kunst an.
Natürlich gibt es Faustregeln. Die Drittel-Regel, führende Linien, Vordergrund – Hintergrund, Farbkreis und so weiter. Oft lässt sich so erklären, warum ein Bild interessanter aussieht als andere. Aber dann gibt es Bilder, die formal eigentlich nicht gut sind. Total langweilig. Oder irgendwie schief. Doch wenn man sie eine Weile anschaut, sie wirken lässt, dann entwickeln sie ein seltsames Eigenleben.
Bei einem Portrait ist es wohl meist der Blick der fotografierten Person, der uns einfängt. Darauf sind wir als soziale Spezies schließlich geeicht. Aber bei einem einsamen kleinen Vogel vor einer Wolkenwand? Oder einem weit entfernten Storch auf einem Dach? Oder einem chaotischen Schwarm Mauersegler?
Warum fesseln mich grade diese Bilder? Und andere, sehr ähnliche, theoretisch viel besser gelungene, aus der gleichen Reihe überhaupt nicht? Warum entstehen in meinem Kopf gerade hier Geschichten?
Die Bilder hier sind in den letzten Monaten von meinem Balkon aus entstanden. Ich hab gezögert, sie zu veröffentlichen, weil die meisten eben formal nicht besonders sind. Haben sie diese besondere Wirkung nur auf mich? Sieht jemand anderes hauptsächlich die Mängel und wundert sich? Zerstöre ich mit solchen Bildern meinen exzellenten Ruf? (Haha, dreaming of…)
Trotz dieser Fragen bin ich immer wieder über diese Fotos gestolpert und hängen geblieben. Was soll’s also! Ich schaue, wohin das führt. Zu den Regeln zurück kommen kann ich ja immer noch…
Lieber Klaus,
hier ein paar spontane Gedanken zu deinen vielen Fragen:
Ich glaube, die emotionale Wirkung der Bildinhalte ist auch noch ein wesentlicher Punkt neben den formalen Kriterien. Bei den Portraits hast du es erwähnt (der Blick). Mir fällt bei einigen deiner Bilder in diesem Beitrag auf, dass sie mich auf der emotionalen Ebene ansprechen. Oder es entstehen Geschichten im Kopf, so wie du ja auch schreibst.
Ein paar Beispiele:
Der Storch, der sich majestätisch vom Schornstein in die Lüfte erhebt. Die Schornsteine sind sowas von banal, der Himmel ist langweilig grau. Doch die Bewegung des Storchs hat etwas würdevoll-majestätisches. Das berührt mich.
Der „flügellahme“ Storch (S/W in Frontalansicht) lässt ganz offenbar seine Schultern hängen. Seine Flügel hängen an ihm herunter wie zwei ausgefranzte Frackschöße. Das wirkt einfach todtraurig und trostlos. Da passt ein Umfeld mit blechgeflickten bzw. verschissenen Ziegeln sehr gut dazu, genauso wie die beiden völlig unmotiviert ins Bild ragenden unscharfen Antennen, oder was das sonst sein mag.
Das erste der beiden Taubenbilder lebt für mich von den dynamischen Gegensätzen und der Geschichte: Er plump aufgeplustert, sie elegant schlank. Er (dicke Hose) will, sie ziert sich. Er Kopf (herausfordernd) nach rechts gelegt, sie (kalte Schulter zeigend) Kopf nach links. Das ergibt für mich einen so starken Ausdruck, dass das Foto das perfekte Sinnbild für das Balzen abgibt, durchaus artübergreifend…
Und bei einem Bild ist es gerade ein gebrochenes Gestaltungsprinzip, das mich fesselt: Der fliegende Storch im dreieckigen Himmelsausschnitt. Normalerweise gibt man Blicken oder Bewegungen ja Raum in der Bildgestaltung. Wenn sich etwas nach links bewegt, braucht es nach links auch Platz. Und hier fliegt der Storch in den immer enger werdenden spitzen Winkel hinein. Gleich ist er total eingezwängt. Und das witzige ist: er zieht schon das Genick ein vor der scheinbaren Kollision.
Das Brechen gängiger Gestaltungsprinzipien ist ja auch eine Möglichkeit, mit den eingefahrenen Gewohnheiten des Rezipienten zu spielen. Das wird ja auch in anderen Künsten gemacht. Z.B. in der Musik der „Trugschluss“, wenn eine Kadenz den entspannenden Schlussakkord in der Grundtonart vorbereitet und es dann – ätschbätsch- doch anders weiter geht. Auch so was löst Emotionen aus: Überraschung, oder auch Unbehagen, wenn die Spannung nicht aufgelöst wird, oder wie im Fall des Storchs weil ihm der Platz für seinen eigentlich so majestätischen Flug fehlt.
Liebe Grüße,
Stefan
Ja, die Geschichten, die im Kopf entstehen…
Wenn die Aufgabe lautet: „Geh in die Stadt und schieße Bilder, die Geschichten erzählen“, dann fühle ich mich erst mal total überfordert. Hilfe! Was für ein Anspruch! Und manchmal passiert es einfach von selbst. Zur rechten Zeit am richtigen Ort. Klick!
Wow, danke für die „unperfekten“ Bilder, die mich auch emotional ansprechen, mir sind technische Sachen sowas von egal. Ein Bild berührt mich oder nicht. Danke für die ausführlichen Kommentare von Stefan zu den einzelnen Bildern. Ich hätte es nicht erklären können was mich an einem Bild ergreift. Hängende Flügel, Aufsteigen vom Schornstein, Wind im Gefieder, Flug ins Dreieck gefallen mir besonders gut.