Ein Gedankenspiel in drei Akten
Die handelnden Personen:
Die gute Fee
Noch eine gute Fee
Ein ganz normaler Mensch. Vielleicht du?
Der Ort:
Die Wohnung
Erster Akt: Kalt-Akquise
Es klingelt an der Tür.
„Guten Tag, ich bin hier, um Ihnen einen Wunsch zu erfüllen.“
„Die gute Fee? Sie sehen eher aus wie eine Unternehmensberaterin. Ihr erfüllt doch eher die Wünsche eurer Auftraggeber, oder?“
Sie nach kurzer Irritation: „Wir konnten unseren Service in den letzten Jahren entscheidend professionalisieren. Wir arbeiten nun mit State-of-the-Art KI-Technologie und nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen.“
„Aha. Und ich kann mir alles wünschen, was ich will?“
„Ähm nein, leider nicht ganz. Die freie Wunschauswahl ist unseren Premiumkunden vorbehalten.“
„Okay, wie kann ich also Premiumkunde werden?“
„Wir arbeiten daran, Synergien zu nutzen und unsere Prozesse marktgetrieben zu skalieren, um bestmöglichen…“
„Haaaaalt, halt, halt! Das funktioniert so nicht.
Erstens verstehe ich diesen Businessquatsch nicht.
Zweitens sehen Sie total albern aus mit dem Kostüm und dem iPad. Was ist aus dem Zauberstab geworden?
Und drittens: Bekomme ich nun was oder nicht?“
Die Fee schaut etwas nervös zur Seite und nach oben, atmet durch. Dann packt sie ihr Tablet weg.
Mit leiserer Stimme: „Darf ich reinkommen?“
„Ja okay, bitte schön.“
„Danke“
„Wollen Sie was trinken? Sie sehen echt ein bisschen fertig aus.“
„Ein Wasser wäre super, vielen Dank.“
Beide setzen sich an den Tisch.
„Wissen Sie, ich hab da auch keine Lust drauf, das sind Vorgaben vom Management. Seit ihr auf der Erde so viele Betriebswirte ausbildet, übernehmen die auch bei uns langsam das Ruder. Es ist ehrlich gesagt – zum K…..en!“
„Ich glaube, ich weiß was Sie meinen…
Und was sollt ihr denn nun verticken?“
„Tatsächlich immer noch Wünsche. Aber halt abgestuft. Je nachdem, wie wichtig ein Kunde ist.“
„Und ich bin…“
„… Basislevel, genau.“
„Immerhin ehrlich.
Okay, also was würde ich denn bekommen?
Ein Feuerzeug? Einen Kugelschreiber mit eurem Firmenlogo?“
Sie lacht etwas gequält.
„Ein bisschen besser ist es schon. Das Einsteigerpaket bedeutet eine Stunde extra.
Jeden Tag. Vollkommen gratis.“
„Hä? Das verstehe ich nicht.“
„Sie schieben künftig einfach jeden Tag eine Stunde Zeit irgendwo ein. Wenn sie morgens eigentlich aufstehen müssten. Oder dabei sind, grade die Bahn zu verpassen. Oder weil das Wetter so schön ist und Sie Lust hätten, ein paar Bahnen zu schwimmen. Oder weil Sie jemanden in Ihrer Familie anrufen möchten. Komplett Ihre Entscheidung.“
Ungläubiges Staunen.
„Ernsthaft? Das ist das Einsteigerpaket? Das wäre der Wahnsinn! Genau, was ich bräuchte!
Meine Güte, das würde mir so viel Stress raus nehmen! Natürlich nehme ich das!“
Zögerlich: „Aber – wie geht das? Friert dann in dieser Stunde die ganze Welt um mich ein? Was hab ich dann davon? Und gibt das nicht so einen … Dings… so einen Riss im Raum-Zeit-Kontinuum, der dann das ganze Universum implodieren lässt oder so?“
Sie lacht auf. „Alles hat Risiken, oder?
Nein, Quatsch. Wir haben das im Griff. Alles läuft ganz normal weiter. Es ist für Sie einfach, als hätte dieser Tag fünfundzwanzig Stunden. Und der nächste auch. Und der darauf auch.
Es hat mit Krümmungen auf der Quantenebene zu tun, aber so ganz genau verstehe ich es auch nicht. Ich bin nur die Vertrieblerin. Es funktioniert halt.“
„Und das kostet mich wirklich nichts?
Also gut. Ich würde das nehmen. Muss ich jetzt was unterschreiben?“
Sie seufzt und holt das iPad wieder raus. „Ja, so laufen die Dinge heutzutage halt. Hier, antippen, dass Sie die AGB gelesen und verstanden haben und dann über dieser Linie Ihre Unterschrift, einfach mit dem Finger.“
„Okay.“
Unterschreibt, nun doch etwas aufgeregt.
„Ich komme in zwei Monaten wieder vorbei. Evaluation und so, Businessquatsch, Sie wissen schon…“
Inzwischen wird sie echt sympathisch.
„Ja klar. Vielen Dank! Bis dahin!“
Sie geht.
Zweiter Akt: Upgrade
Genau zwei Monate später klingelt es wieder an der Tür.
„Ach ja genau, die Fee! Meine Güte, wie die Zeit vergeht! Kommen Sie rein.“
„Gerne!
Und? Wie ist es Ihnen ergangen?“
„Ja super! Diese Extrastunde ist das Beste, was mir passieren konnte! Die hat mir jede Menge Ärger erspart. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich vorher mit vierundzwangzig Stunden hin gekommen bin.
Na ja, bin ich ja auch nicht wirklich.“
„Das freut mich. Bisher hat aber auch noch kein Kunde was anderes gesagt.“
„Das Einzige ist, dass ich doch so ganz langsam merke, dass die Wirkung irgendwie nachlässt. Es ist immer noch die Stunde extra, aber ich brauche die halt auch.“
„Ja, auch das geht den meisten so. Dieses Zeitfenster füllt sich wie von Zauberhand auf.“
„Genau, ich hätte es nicht besser formulieren können.“
„Auch deshalb bin ich heute wieder hier.
Da Sie – ich darf bei Ihnen ja ehrlich sein, oder? – mit der Extra-Stunde keinen Blödsinn getrieben haben, kann ich Ihnen das Advanced-Programm anbieten.“
„Noch eine Stunde täglich?“
„Nein, das haben wir probiert. Es endet aber fast immer genauso wie mit der ersten Stunde. Einfach mehr To- Do’s. Und dann werden die Tage zu lang und die Nächte zu kurz. Das ist nicht gut für die Gesundheit.
Deshalb haben wir uns entschieden, einen größeren Schritt zu machen. Und das scheint für die Leute besser zu klappen.
Kurze Pause.
Und zwar einen ganzen Tag extra je Woche.“
Überraschte Stille.
Etwas nachdenklich: „Wow. Ich verstehe. Man bleibt in einem normalen Tag-Nacht-Rhythmus, hat aber trotzdem mehr Zeit.“
„Ja genau. Das scheint sogar besser verträglich zu sein als die Stunde täglich.“
„Das würde mein Leben total verändern.
Gibt es einen Haken?“
„Nein, eigentlich nicht. Sie können jederzeit kündigen. Dann haben Sie sofort wieder ihre alten Zeitabläufe.“
„Okay, Deal! Das probiere ich.“
„Dachte ich mir.“ Lächelt, holt das iPad raus.
„Sie kennen das Prozedere ja.“
Dritter Akt: Mehr Leben
Ein halbes Jahr später. Es klingelt.
„Ja?“
„Guten Tag, Faktor X hier. Ich würde gerne mit Ihnen reden.“
„Ich kenne keinen Faktor X.“
Genervter Blick. „Die ‚gute Fee‘.“
„Sie tragen zwar das gleiche alberne Kostüm, aber Sie sind nicht die von neulich.“
„Nein, die Kollegin ist nicht mehr bei uns.“
„Sie hat gekündigt? Oder ist ihr was passiert?“
„Ich kann darüber leider nicht reden. Unternehmensinterna, Sie verstehen…“
„Und ihr seid jetzt so ein richtiges Unternehmen? Eine Bräääänd? Ist schon der Börsengang geplant?“
Diese Fee lässt sich nicht so leicht aus der Reserve locken. Sie geht einfach über den Kommentar hinweg: „Ich bin hier, um mit Ihnen über Ihren Vertrag zu reden.“
„Ja der läuft. Gibt es Probleme?“
„Bei uns selbstverständlich nicht. Bei Ihnen?“
Jetzt selbst etwas überrumpelt.
Zögerlich: „Nein. Eigentlich im Gegenteil. Es läuft gut. Super gut sogar!“
Und etwas freundlicher: „Dieser Tag extra ist so wunderbar! Ich war seit Jahren nicht mehr so entspannt. Ich glaube, ich war kurz vor einem Burnout. Aber wenn man mitten drin ist, merkt man das kaum.
Ich nehme mir jetzt mehr Zeit. Ich gehe öfters mit Freunden wandern. Vielen Dank übrigens für Ihre Liste mit anderen Extra-Tag-Kunden. Normale Menschen haben ja leider selten Zeit für solche Ausflüge.
Meine Familie hatte ich in den letzten Jahren doch etwas vernachlässigt. Unser Verhältnis hat sich jetzt echt wieder verbessert. Ich hab wieder Zeit für meine Hobbies. Ich kann meine Kreativität endlich ausleben!
Das war wirklich ein toller Wunsch mit der Extrazeit. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt auf diese Idee gekommen wäre.“
„Sehen Sie, deshalb stufen wir unsere Angebote auch ab. Mit dem ‚Einfach-so-wünsch-dir-was-auch-immer‘ kamen viele Menschen einfach nicht klar. Manchen ging es danach sogar schlechter als vorher. Wie bei den Lottogewinnern. Sie wissen schon.“
So ein kleines bisschen bevormundend fühlt sich das ja schon an. Aber wahrscheinlich hat sie Recht.
„Weshalb sind Sie heute hier bei mir? Evaluation? Oder noch ein Angebot?“
Sie rückt den Stuhl etwas näher, die Stimme wird leiser. Sie schaut nun direkt in die Augen. Das ist jetzt offensichtlich nicht mehr Business-Blabla. Sie wirkt ernst.
„Sie haben die Zeit wirklich gut genutzt. Damit haben Sie sich qualifiziert für den nächsten Schritt.“
„Noch einen Tag pro Woche?“
„Nun, es ist etwas vielschichtiger. Mit dem Extratag kommen die meisten Kunden recht gut zurecht. Sie müssen ihr Leben nicht völlig umstellen. Es ist nur einfach mehr Luft zum Atmen.
Der nächste Schritt aber braucht eine sehr bewusste Auseinandersetzung. Sie sollten wirklich wissen, was Sie da tun.“
„Was da wäre?“
„Sie selbst kennen sich am besten. Sie machen einen Vorschlag, wie viel Extrazeit Sie wollen.“
„Egal wie viel?“
„Egal wie viel. Sie bekommen sie.“
„Hmm. Ich hatte das ja letztes mal schon gefragt, aber zur Sicherheit: Gibt es einen Haken?“
„Ein Commitment, wenn Sie so wollen. Es würde ein Vertrag mit 24 Monaten Mindestlaufzeit. Wie gesagt, Sie sollten sich gut überlegen, was Ihnen gut tut. Es wäre auch völlig in Ordnung, den Extra-Tag wie bisher weiter laufen zu lassen. Ein weiteres Upgrade wird es dann aber künftig nicht mehr geben. Diese Möglichkeit haben Sie nur jetzt.“
„Eigentlich ist das mit dem einen Tag prima. Aber verstehe ich das richtig, dass diese Extra-Tage de facto das Leben verlängern? Altere ich dann auch schneller?“
Sie nickt zufrieden. „Sie stellen die richtigen Fragen. Ja, Sie bekommen dadurch mehr Leben. Und nein, das wird unseren Forschungen zufolge nicht am Ende fehlen. Sie altern nicht schneller.
Allerdings – hören Sie gut zu, und das ist sehr, sehr wichtig – bekommen Sie dafür nicht mehr Energie als bisher.
Wir arbeiten dran, aber derzeit können wir das physikalisch noch nicht umsetzen. Sie müssen Ihre Kraft also klug auf die Zeit verteilen. Sie müssen selbst die richtige Balance aus Zeit und Energie für sich abschätzen.“
„Puh, das ist nicht ganz trivial. Bekomme ich Bedenkzeit?“
„Ja, selbstverständlich. Wir wollen ja zufriedene Kunden. Ich kann Ihnen dieses Angebot offen halten bis zum Ende des laufenden Monats. Danach verfällt es.“
Nun ist sie wieder voll im Businessmodus. „Geben Sie mir Bescheid. Hier sind meine Kontaktdaten.
Auf Wiedersehen!“
„Ja, tschüss!“
So. Und nun?
Wofür entscheidest du dich?
Epilog
Dieses Gedankenexperiment kam mir irgendwann nachts in den Sinn.
Die meisten Menschen heute sind müde und gestresst, weil ihnen hinten und vorne die Zeit fehlt.
Weil sie durchs Leben rennen wie ein Hamster im Käfig.
Weil die Zeit zur Erholung und für sich selbst nicht mehr da ist.
Weil unsere Gesellschaft genau so angelegt ist.
Wenn wir alles halb so schnell machen könnten, ginge es vermutlich allen besser.
Mehr Zeit ist also gut.
Aber wie viel davon?
Zu wenig Extrazeit ballern wir vermutlich schneller voll als wir überhaupt merken.
Aber wenn zu viel Zeit da ist?
Wenn wir irgendwann alles erledigt haben? Alles ausprobiert?
Wenn wir überall gewesen sind, wo wir schon immer mal hin wollten?
Oder, wie es bei ME/CFS lebensbestimmend ist, wenn die Kraft gar nicht reicht, um diese Zeit überhaupt nutzen zu können?
Wie oft können wir uns dann daran anpassen und quasi neu erfinden?
Neue Perspektiven einnehmen?
Uns immer wieder mit der Lage arrangieren?
Ich hab mal grob anhand meines Tagebuchs überschlagen.
Das, was die meisten gesunden Menschen (oder ich selbst früher) in einer Woche tun und erleben, verteilt sich, was Häufigkeit und Intensität angeht, bei mir heute ungefähr auf ein Jahr.
Die Begegnungen und Gespräche, die ein Gesunder an einem Tag hat, hab ich im Schnitt in etwa eineinhalb Monaten.
Das heißt, ich lebe de facto mit dem Zeitfaktor 50!
Auf einen konventionellen Tag kommen fünfzig Extra-Tage.
Aber eben ohne Extra-Energie dafür.
Wahnsinn. Kein Wunder bin ich am Limit!
Es gibt immer noch Inhalte. Das ist ja das, was ich hier so poste. Aber diese Inhalte rücken immer weiter auseinander. Dazwischen ist hauptsächlich Langeweile und Erschöpfung.
Zeit wird zum Fluch, wenn man nicht die Mittel hat, sie zu füllen.
Faktor 50 ist definitiv kein gesundes Maß.
Fazit:
Leute, unterschreibt auf keinen Fall so einen Vertrag, egal wer fragt!
Und schon gar nicht, wenn es keine Kündigungsmöglichkeit gibt.
Man hat nämlich nie einen Anwalt, wenn man ihn braucht…