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Schnake

Die fliegende Pest

Auch dieser Beitrag hat irgendwie mit ME/CFS zu tun, aber ich glaube an dieser Stelle kann jeder Einzelne voll mitfühlen. Es geht um eine völlig überflüssige Erfindung der Evolution: Culicidae. Stechmücken.

Prolog

Ich bin in Fischerbach aufgewachsen. Der Garten wuchs förmlich bis auf den Balkon. Deshalb waren Schnaken auch ein fester Bestandteil meiner Kindheit:

  • „Licht aus oder Fenster zu!“
  • Die Paral-Sprühflasche, mit der Papa versucht hat, die Biester abzuschießen.
  • Das seltsame rote Gerätchen, das man in die Steckdose steckte. Das hat dann ein kleines blaues Plättchen erwärmt und irgendein Gift in die Luft freigesetzt. Bei dem Gestank war ich mir nicht sicher, wer zuerst verenden würde.
  • Fliegenklatsche und Taschenlampe immer griffbereit neben dem Bett. Nächtliche Jagdzüge, überall kleine dunkelbraune Flecken an Wand und Decke. Oder größere rote, wenn sie schon gestochen hatten. Ich weiß nicht, in welchem Fall das Triumphgefühl größer war.

Hier in Offenburg kannte ich das in den letzten 30 Jahren fast nicht mehr. Vielleicht zwei mal im Jahr hat mich nachts eine Schnake genervt. Aber dann hab ich sie halt irgendwann stechen lassen und weiter geschlafen. Und selbst wenn ich morgens am See gesessen hab, um den Eisvogel zu fotografieren, war das erstaunlicherweise kein Problem. Insektensterben vielleicht?

Dieses Jahr ist alles anders

Zum einen sind die Biester jetzt überall. Sobald die Dämmerung naht oder ein Gewitter, kann ich nicht mehr ungestört auf dem Balkon sitzen. Ich lüfte inzwischen abends nicht mehr, das verhindert zumindest drinnen die Invasion.

Dazu kommt aber ein zweites Problem: Entweder sind die Viecher mutiert. Oder ich bin es. Jedenfalls schwellen die Stiche enorm an. Letzte Woche saß ich abends mit Freunden vor der Oststadtliebe und bekam einen Stich in die Oberlippe. Bis ich zuhause war, hatte ich da so einen Knubbel, dass ich fast nicht mehr aus dem Glas trinken konnte.

Vorgestern hab ich auf dem Balkon mit einer Freundin telefoniert. Als es am Kopf juckte, hab ich in den Spiegel geschaut:

Okay, das sieht irgendwie nicht normal aus. Selbst am nächsten Morgen war die Beule immer noch zu sehen. Wenn mein Immunsystem schon wegen eines Schnakenstichs so randaliert, ist es kein Wunder, dass ich so platt bin.

Der Fight

Tja und dann die letzte Nacht. Schon auf dem Balkon hatte ich einiges abgekriegt, sogar durch die Klamotten durch. Obwohl die Balkontür da hinter mir zu war, hat es wohl eine Schnake geschafft, rein zu kommen. Ich hab mich kaum umgezogen, da summt es schon. Die Frequenz scheint mir ungewöhnlich hoch. Ist das überhaupt eine normale Stechmücke?
Meditieren ist jedenfalls unmöglich, nach einer Minute schwillt mir schon der Fuß an. Früher waren die Schnaken irgendwann satt. Diese hier anscheinend nicht. Ist das diese asiatische Tigermücke? Ich zähle jetzt schon vier Stiche.

Also Licht an, auf die Jagd gehen. Ich höre sie, einmal sehe ich sie kurz fliegen, aber dann ist sie weg. Keine Chance. Nach zwei Versuchen gebe ich auf. Ich brauche eine andere Lösung.

Ich erinnere mich, dass ich ja noch so ein Insektennetz hab. Das hatte ich mal fürs Trekking gekauft. Aber wie hänge ich das über dem Bett auf? Ich kann ja nicht um diese Uhrzeit anfangen, Löcher in die Wand zu bohren. Mit einem Seil, das ich um und über das Regal am Kopfende des Bettes knote, schaffe ich es.
Ich schlüpfe rein. Aber darunter ist es erstaunlich stickig. Draußen fällt das nicht so auf, weil immer etwas Wind geht. Und damals in Ghana machte mir das auch drinnen nichts aus. Aber da war ich auch noch gesund.
Dann eine ungeschickte Bewegung, als ich mich im Bett umdrehen will, fast ein Wadenkrampf! Ich kann ihn noch mal abwenden, aber mit dem ganzen Stoff über mir käme ich nicht schnell genug aus dem Bett. Das geht überhaupt nicht!

Also Plan C. Ich packe die Matratze und das Bettzeug und ziehe um in das andere Zimmer. Dort ist es etwas kühler und hoffentlich schnakenfrei. Ich lege mich hin. Endlich Ruhe!

Aber was ist das? Durch die geschlossenen Augen sehe ich immer wieder ein Blitzen. Aaargh, der Rauchmelder über mir! Und draußen im Hof geht dauernd die Beleuchtung an und aus. Das kann doch nicht wahr sein! Auch das hätte mich noch vor einem halben Jahr nicht am Schlafen gehindert. Jetzt schon. Ich drehe mich hin und her. Das kann ich hier vergessen.

Also gebe ich auf. Ich ziehe wieder in mein normales Zimmer um. Sollen sie mich halt fressen, ich kann einfach nicht mehr. Ich will bitte, bitte nur noch schlafen. Erstaunlicherweise hat auch die Schnake offenbar genug. Ich schlafe nach eineinhalb Stunden Kampf endlich ein.

Der Tag danach

Jetzt sitze ich hier am Rechner und bin ich vollkommen gerädert. Eigentlich wollte ich auf den Markt, aber meine Beine sind wie Gummi. Gott sei Dank hab ich Freunde, die für mich einkaufen gehen! Nächste Woche muss ich mir ein Insektengitter oder ein Netz für die Balkontür besorgen. So geht das jedenfalls nicht weiter.

Ich glaube, meine Genervtheit wegen der Mücken kann jeder nachvollziehen. Da ist aber noch eine andere Ebene:
Dem normalen Leben bin ich seit bald sechs Jahren schon nicht mehr gewachsen. Da kann ich nicht mehr mithalten. In der Natur wird so ein Tier zur Beute von Raubtieren. Das ist sozusagen seine letzte Bestimmung.

Nun haben wir einen Sozialstaat. Ich hab mir meine kleine Nische geschaffen, wo ich noch zurecht komme. Dass nun aber so ein einziges winziges Insekt reicht, mir auch noch diese Restsicherheit und meine letzten Enerviereserven zu nehmen, das fühlt sich beängstigend an!

Ich bin so schwach, dass es sozusagen die großen Beutegreifer gar nicht mehr braucht. Ich kann nicht mal mehr die kleinen Tierchen abwehren. Dieser Körper ist nicht mehr wirklich lebendig und die Verwertung beginnt schon mal.
Das sind drastische Bilder. Ich hab als Kind wohl einfach zu viel ‚Expeditionen ins Tierreich‘ geschaut. Aber es fühlt sich für mich grade genau so an.

Dabei weiß ich natürlich, dass es genau das Leben definiert, sich von der ersten Sekunde seiner Existenz an mehr oder weniger erfolgreich gegen den Verfall zu stemmen und früher oder später doch daran zu scheitern. Also wenn man nicht grade ein Axolotl ist. Das Leben ist ein wirklich exotischer und enorm erhaltungsaufwändiger Zustand.

Außerdem hab ich ja trotzdem weiterhin eine Art von Alltag. Ich frühstücke, ich sitze am Rechner, ich verfolge das Weltgeschehen, schreibe Blogbeiträge, telefoniere oder maile mit Freunden. Diese Gleichzeitigkeit ist so surreal…

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