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Gleichzeitigkeit

Gleichzeitigkeit

Quantenphysik ist ziemlich verrückt. In der Welt des Allerkleinsten funktionieren Naturgesetze und Logik nach völlig anderen Regeln. 1935 postulierte der österreichische Physiker Erwin Schrödinger ein berühmtes Gedankenexperiment:

Da ist eine Kiste.
In dieser Kiste sitzt eine Katze.
Und eine Ampulle mit einem giftgen Gas.
Und ein Mechanismus, der die Ampulle mit 50%iger Wahrscheinlichkeit innerhalb einer bestimmten Zeit zerstören wird.

Es war nur ein Gedankenexperiment, keine Katze kam dabei zu Schaden. Im richtigen Leben wäre die Katze zu einem bestimmen Zeitpunkt natürlich entweder tot oder lebendig. In der Quantenwelt ist sie beides gleichzeitig während der ganzen Zeit! Erst wenn man den Deckel lüpft und nachschaut, kippt der Zustand nach ‚tot‘ oder ‚lebendig‘. Das Beobachten selbst erzeugt den Zustand.

Okay, das klingt irre. Lichtquanten verhalten sich aber genau so. Sie können an zwei Orten gleichzeitig sein. Bis man genau nachmisst. In dem Moment verändern sie ihren Zustand. Dabei können sie sogar ihre eigene Vergangenheit ändern! Ein Video dazu hat mich kürzlich total aus den Socken gehauen (vor allem gegen Ende, so ab 45:55min).

Warum erzähle ich all das hier?
Nun, weil sich meine eigene Realität ziemlich genau so anfühlt.

Ich bin ja schon lange krank. In jüngster Zeit hatte ich noch weniger Energie als sonst. Ich schaffte es in den letzten drei Wochen kaum noch aus dem Haus. Einmal war ich nur über die Straße Essen einkaufen und konnte am nächsten Tag kaum noch sitzen. Ich hab keine Ahnung, warum das so schlecht geworden ist. Ich weiß nicht, ob das jemals wieder besser wird.
Und doch fällt mir eine gute Antwort erstaunlich schwer, wenn mich jemand fragt, wie es mir geht.

Ich weiß, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass ich aus eigener Kraft wieder gesund werden kann. Und ich weiß, dass von Seiten der Medizin in absehbarer Zeit wenig Hilfe in Aussicht steht. Gleichzeitig weiß ich aber auch, dass es experimentelle Mittel schon gibt, die mich recht wahrscheinlich innerhalb von Tagen wieder fast gesund machen könnten.

Ich hab einen Vorsorgeordner und ein Testament erstellt, überlege, was ich mache, wenn sich mein Zustand weiter verschlechtert. Und gleichzeitig sorge ich mich um die langfristige Zukunft der Demokratie und des Klimas.

Ich verzweifle an der Krankheit und ich bin gleichzeitig kreativ, genieße die Sonne und kann lachen.

Ich komme kaum noch aus dem Haus. Und gleichzeitig recherchiere ich dazu, die Führerschein-Erweiterung für deutlich schnellere 125er e-Roller zu machen.

Das eine Auge ist weitgehend bereit, sich für immer zu schließen, während das andere gleichzeitig den Horizont nach Abenteuern absucht. Ich schließe mit dem Leben ab und mache gleichzeitig Pläne.

Das ist keine Depression. Das ist andererseits auch kein Nicht-Wahrhaben-Wollen. Es ist keine Hoffnung, die zuletzt stirbt. Nein, beide Pole sind jeweils gleichzeitig wahr und valide.

Das ist einigermaßen absurd. Aber das ist halt die Natur dieser Krankheit. Und vielleicht ja auch der Welt. Es schadet ganz sicher nicht, auf dieser Gleichzeitigkeit reiten zu lernen, ohne auf der einen oder anderen Seite runter zu fallen. Man muss dazu nur die gewohnte Logik über Bord werfen.

Nennt mich Erwin!

2 Gedanken zu „Gleichzeitigkeit“

  1. Hallo Erwin,

    dein Beitrag hat mich sehr berührt, natürlich auch erst mal als Physiker fasziniert. Wie verrückt die Quantenmechanik ist, das ist schon für sich genommen interessant genug. Aber was du für dich daraus machst, berührt mich auf einer viel tieferen Ebene:

    Du schreibst, dass das gleichzeitige valide Vorhandensein der beiden gegensätzlichen Pole die Natur der der Krankheit sei. Ich glaube sogar, dass es die Natur des Lebens an sich ist, häufig in der Schwebe zwischen mehreren möglichen Zukünften zu sein und dass es deshalb auch für Leute ohne ME/CFS weise sein kann, die ‚Gleichzeitigkeit zu reiten‘, wie du es nennst. Also mit den möglichen zukünftigen Zuständen intensiv in Fühlung zu gehen und sich dabei große Offenheit zu erlauben. (Habe ich das in deinem Sinne interpretiert?) Eine solche Lebenshaltung finde ich weniger absurd als die Herangehensweise so mancher ‚Lebens-Optimierer‘: Wo will ich in einem Jahr sein? Wie kann ich das erreichen? Und los! Als wäre das Leben linear und vorhersagbar…
    Für mich triffst du mit dem Bild ‚auf der Gleichzeitigkeit reiten‘ auch den Nerv einer buddhistischen Sichtweise (wie ich sie verstehe): Nämlich dass alles, was sich in der Welt zeigt, nur in Abhängigkeit von unzähligen anderen Dingen entsteht, und auch wieder vergeht, sobald die Existenzbedingungen nicht mehr erfüllt sind. In diesem hochdynamischen und komplexen Spiel werden einzelne Zustände aus einem unendlichen Möglichkeitsraum ausgewählt und zeigen sich dann als scheinbare Realität. Die wahre Realität ist jedoch der Möglichkeitsraum, der als Leere bezeichnet wird, obwohl er das Potenzial für alles birgt.
    Auch wenn man dieser Sichtweise nahesteht, scheint mir dein spielerischer Umgang mit den potenziellen Zukünften durchaus angebracht. Für mich hast du sehr schön zum Ausdruck gebracht, wie man in einer unsicheren, dynamischen und nicht kontrollierbaren Welt leben kann: Sich nicht in eine bestimmte gewünschte Zukunftsvision festbeißen, sondern offen bleiben und abwarten bis sich wirklich eine Gelegenheit zum Handeln zeigt.
    Ich glaube das ist so ungefähr auch das, was manche Leute mit dem Bild vom Fluss des Lebens meinen.

    1. Hallo Stefan,
      vielen Dank für deine Perspektive, da hat was in mir klick gemacht! Den quasi unendlichen Möglichkeitsraum eines komplexen Systems mit der Leere im Buddhismus gleichzusetzen, darauf bin ich bisher nie gekommen!

      Die Leere war für mich bisher immer das Nichts. Die Abwesenheit aller Ablenkungen, Konzepte, Identifikationen. Deshalb hat das in mir auch nie so gezündet. Das wäre ja ein guter Ort, um Kraft zu sammeln, Pause zu machen. Aber wo absolut nichts ist, gibt es auch keinen Sinn, keine Bedeutung. Eine einzige große Lücke. Weshalb sollte ich auf Dauer da hin wollen?

      Wenn ich mir aber die Leere als Tor vorstelle, als Kondensationskern, an dem sich Möglichkeiten sammeln und in die physische Welt manifestieren, entsteht in mir Resonanz. Da fängt was an zu arbeiten in mir!

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