Würde ich an Diabetes oder MS oder einer anderen bekannten Krankheit leiden, bräuchte es so einen Eintrag nicht. Bei ME/CFS ist das anders. Selbst die meisten Ärzte haben noch nie davon gehört. Noch nicht mal die, die eigentlich zuständig sind.
Vieles, was ich unten schreibe, klingt wahrscheinlich ziemlich absurd, hahnebüchen, emotional überspitzt. Das hätte ich früher wohl auch so eingeschätzt. Ich wollte das auch lange nicht wahr haben und hab etwa ein Jahr gezweifelt und dagegen angekämpft. Deshalb hab ich im Anschluss an den Beitrag ein paar hoffentlich seriöse Links und Quellen angehängt. Damit kann sich jeder selbst informieren.
Hier also ein Kurzüberblick über ME/CFS:
Auslöser
Meist waren die Menschen vorher völlig gesund. Dann erkranken sie an einer Infektion wie Pfeiffer-Drüsenfieber oder Borreliose, oder sie erleiden eine Schädigung der Halswirbelsäule, z.B. nach einem Verkehrsunfall. Meistens sind das ja vorübergehende Probleme, aber bei einem kleinen Teil der Patienten wird es einfach nicht mehr besser.
Häufigkeit
Man könnte meinen, eine so unbekannte Krankheit wäre selten. Tatsächlich schätzt man aber, dass in Deutschland etwa 240.000 Menschen betroffen sind. Das ist etwa so häufig wie MS und wesentlich häufiger als HIV.
Symptome
Es ist nicht leicht, so kurz und knapp eine so komplexe Krankheit zu beschreiben. Die Symptome können sehr unterschiedlich sein. Hier mal ein paar typische:
- Schwäche. Nicht nur etwas schlapp, sondern total schwach. Ich hätte vorher einen Halbmarathon laufen können. Jetzt schaffe ich noch etwa 100m langsames Gehen, dann ist der Körper am Limit. Der Kreislauf bricht ein, die Muskeln verhärten und tun weh. Damit bin ich ein mittelschwerer Fall. Schwer Betroffene können nicht mehr aus dem Bett aufstehen, teilweise nicht mehr kauen und schlucken.
- Schmerzen, Schlafstörungen und Verdauungsprobleme sind häufig. Bei mir zum Glück nur, wenn ich meine Grenzen überschritten hab.
- Konzentrationsprobleme. Alles im Kopf geht langsamer, vor allem Taskwechsel sind enorm mühsam. Laute Geräusche oder sehr helles Licht können überfordern oder Schmerzen auslösen.
- Crash nach Überlastung. Wenn man sich mehr anstrengt, als der Körper oder das Gehirn verkraften, führt das zu einer Verschlimmerung aller Symptome. Es dauert mehrere Tage, um sich davon zu erholen. Wenn man Pech hat, erholt sich das System gar nicht mehr, und man muss mit der Verschlimmerung weiter leben. Das ist dann das ’neue Normal‘.
Diagnose
Das ist der hässliche Teil: Es gibt noch keinen Bluttest oder etwas ähnliches. Im Labor ist man dicht dran, aber das hilft dem Patienten nicht. Ein behandelnder Arzt kann eine Menge andere Krankheiten ausschließen. Dann werden die oben genannten Symptome abgeklärt, das dauert oft Monate oder gar Jahre. Dann müsste der Arzt darauf die Diagnose ‚ME/CFS‘ stellen.
Leider geschieht das fast nie. 80% der Erkrankten haben nach Jahren ganze Ordner an Ausschlussdiagnosen, aber noch keine positive Diagnose ‚ME/CFS‘. Und das bedeutet, dass der Zutritt zum gesamten Sozialsystem verschlossen ist. Ohne Diagnose keine Leistungen der Krankenkasse. Kein Schwerbehindertenausweis. Keine Berufsunfähigkeitsrente. Keine Verrentung. Keine Pflegeleistungen. Meinen Rollstuhl und das Zuggerät hab ich von meinem eigenen Geld gekauft.
Und noch schlimmer: Es gibt nur eine ärztliche Disziplin, die Erfahrung darin hat, mit Patienten zu reden und darauf eine Diagnose zu stützen: die Psychiatrie. Und genau da landen sämtliche ME/CFS-Patienten irgendwann zwangsläufig. Leider hat auch die Psychiatrie meist keine Ahnung von ME/CFS. Und so wird das diagnostiziert, was sie kennen: Entweder eine psychosomatische Erkrankung oder eine Depression. Mit einer Diagnose Depression hätte man theoretisch Zugang zum Gesundheitssystem. Warum nur theoretisch?
Die Standard-Therapie bei Depression besteht aus Sport, Antidepressiva und Psychotherapie.
Psychotherapie ist eigentlich was Gutes. Für jemanden, der sich aber kaum konzentrieren kann, oft eine Überforderung, die zum Crash führt. Hab ich auch schon erlebt. Leider wird Vorsicht und Zurückhaltung im Zweifel oft als Widerstand gegen die Therapie fehltgedeutet.
Antidepressiva schlagen nicht an, weil ja nicht wirklich eine Depression vorliegt. Also werden oft mehrere verschiedene Mittel ausprobiert, manchmal auch Neuroleptika. Mit allen Nebenwirkungen, aber ohne Nutzen.
Sport ist das Allerschlimmste, was man machen kann. Das ist wie eine Fastenkur für einen Magersüchtigen. Öl ins Feuer. Ein Behandlungsfehler. Beharrt man auf das Pensum, das man grade noch verkraften kann, gilt man schnell als Therapieverweigerer.
Im Ergebnis führt das oft dazu, dass die Patienten noch kranker aus der Klinik heraus kommen als sie rein gegangen sind.
Im Allgemeinen bin ich sehr froh, dass wir so ein gut ausgebautes Gesundheitssystem haben. Aber für einen ME/CFS-Erkrankten ist es meist nicht der Retter in der Not. Eher der vermeintliche Freund, der einen mit besten Absichten immer weiter in die Katastrophe rein reitet, das aber nicht einsehen will. Auch Contergan wurde damals sicher mit allerbesten Absichten verschrieben.
Therapiemöglichkeiten
Gibt es derzeit nicht. Es laufen Versuche mit hoch dosierten Vitaminen und Spurenelementen, mit Hormonen, mit Virostatika, mit Chemotherapeutika, mit Immunstärkung und Immunsuppresion. Nichts davon hat bisher verlässliche Erfolge gebracht.
Das Wichtigste ist deshalb, so auf sich zu achten, dass man es nicht schlimmer macht. Man muss lernen, die Warnsignale früh wahrzunehmen und absolut ernst zu nehmen. Keinerlei Anstrengung darüber hinaus, oder man bezahlt teuer.
In unserer Gesellschaft kämpft man üblicherweise gegen Krisen an. Man kämpft gegen den Krebs, gegen den Jobverlust, gegen das Altern, gegen den Klimawandel. Bei ME/CFS kämpft man unbewaffnet mit hinter dem Rücken gefesselten Händen gegen einen unsichtbaren und unverwundbaren Gegner. Sinnlos, man stolpert höchstens über die eigenen Beine dabei.
Man muss sein Leben entschleunigen und völlig neu definieren. Dann hat man die Chance, dass sich die Symptome über die Monate und Jahre wieder bessern. Völlig gesund wird kaum jemand wieder. Wenn man Glück hat und nicht so schwer betroffen ist, dann kann man schauen, was noch geht. Und damit kann man versuchen, Spaß zu haben und das Leben zu genießen. Da bin ich ganz gut dabei.
Mein Leben hat an Quantität bestimmt 70% eingebüßt. Trotzdem fühle ich mich gut. Ich bin eigentlich genauso glücklich wie vorher. Und dafür bin ich sehr dankbar!
Infos und Quellen
Hier einige Links:
– Die Seite des Fatigue-Zentrums der Charité
– Patienteninfos des Selbsthilfeverbands Fatigatio und der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS.
– Der Eintrag im medizinischen Wörterbuch Pschyrembel
Es gab diverse große Artikel in der ZEIT, der FAZ, der WELT, der Badischen Zeitung und der Süddeutschen, leider aber alle hinter einer Bezahlschranke.