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Angler

Was Menschen wollen

Okay, die Ergebnisse der Europawahl haben mich nicht wirklich überrascht. Die Umfragen haben nichts anderes erwarten lassen. Gestern Abend hab ich noch eine Wahlsondersendung im Fernsehen angeschaut, und dann wurde exakt diese Grafik eingeblendet:

(Quelle: Bundeswahlleiterin)

Es ist jetzt 34 Jahre her, aber wenn man das hier sieht, drängt sich die Frage auf: ‚Welche Wiedervereinigung???‘ Und auch, wenn man nur die ‚alten Bundesländer‘ anschaut, ist das krass. Seit Bestehen der Bundesrepublik gab es das glaube ich noch nie, dass eine Partei sämtliche Flächenstaaten gewonnen hat. Gut, es war keine Bundestagswahl. Aber trotzdem.

Blasen

Die Ausnahmen Berlin und Hamburg zeigen ein zentrales Problem: Die meisten Medien sitzen dort. Der größte Teil der Politik findet dort statt. Wenn jemand Teil dessen ist, kann man schnell ein furchtbar schiefes Bild von der Lage in der Bevölkerung bekommen. Selbst im Deutschlandfunk, meinem Lieblingssender, endet Deutschland gefühlt an der Stadtgrenze Berlins. Eine winzige Bubble, die um sich selbst rotiert. So deutlich wie auf dieser Karte hab ich das noch nirgends gesehen.

Menschen sind verschieden. Wenn sich so große Teile der Bevölkerung trotzdem dermaßen einig sind, wenn das sogar fast EU-weit parallel passiert, ist das mehr als ein Warnschuss. Es ist leicht, diese Bewegung in die Zukunft weiter zu skalieren: Da ist dann entweder das ganze Land blau, oder die Union rückt selbst so weit nach rechts, dass sie die AfD praktisch schluckt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass genau das passieren wird, wenn keine völlig neuen Impulse irgendwoher kommen.

Was ist da passiert?

Mir fällt nur eine plausible Erklärung ein: Das Hemd ist näher als die Jacke.
Es gab so viele Großkrisen in den letzten Jahren, dass die Menschen erschöpft sind. Es gibt kaum noch Gewissheiten, auf die man sich wirklich verlassen kann. Und je bedrohter Menschen sich fühlen, desto mehr suchen sie Sicherheit. Bis zur Regression in frühkindliches Verhalten:

  • Die Augen verschließen. „Wenn ich die Gefahr nicht sehe, sieht sie mich bestimmt auch nicht.“
  • Verantwortung abschieben. „Die Lehrer sind schuld an meinen schlechten Noten. Wenn sie nämlich was taugen würden, müsste ich nicht pauken, dann hätte ich alles ganz von selbst verstanden.“
  • Einen starken Beschützer suchen. „Papaaaaaa!!!“
  • Magisches Denken. „Wenn ich es nur ganz doll will und Abrakadabra sage, dann ist das Spielzeug, das ich runtergeschmissen hab, wieder heil.“
  • Die Welt vereinfachen. „Mir egal, wenn böse Jungs Chef sind. Bisher haben sie ja nur den Paul verprügelt. Und der ist eh doof.“

Ich finde es spannend, dass dieses Phänomen auf allen Seiten aufzutreten scheint:
Große Teile der Bevölkerung verdrängen Klimawandel und die Komplexität der Welt. Suchen einfache Antworten und starke Führer. Sie wollen, dass man ihnen eine heile Welt verspricht, selbst wenn völlig offensichtlich ist, dass das nicht erfüllt werden wird. Sie wollen es einfach glauben, damit die Angst geringer wird. „Tell me lies, tell me sweet little lies…“

Aber auch die ‚progressiven‘ Teile der Bevölkerung handeln nach genau dem gleichen Muster! Wenn wir uns nur intensiv genug darüber streiten, wieviele Geschlechter es gibt, wie man den grünblauen Krabbelkneifling wiederansiedeln kann, was der Mensch von sich aus arbeiten will, wenn es ein Grundeinkommen gibt, dann werden sich alle anderen Menschen da draußen uns sicher begeistert anschließen. Und wenn nicht, sind sie halt dumm oder böse.

Beides ist naiv.
Nein. Die AfD wird definitiv nicht Butter und Miete billiger und die Rente höher machen. Das behaupten sie noch nicht mal in ihrem eigenen Wahlprogramm. Alle Ausländer rauszuschmeißen wird das Problem nicht lösen sondern noch größer machen. Das dürfen die Briten ja grade erleben.
Und nein. Man kann die Existenzängste anderer Menschen nicht wegdiskutieren, nur weil man vielleicht selbst das Glück hat, weniger Angst zu haben. Wenn man Sorgen für ungültig oder irrelevant oder dumm erklärt, macht man sie nur noch größer.

Bauern stehen auf ihren Feldern grade bis zu den Knien im Wasser. Sie kämpfen trotzdem nicht für mehr Klimaschutz im nächsten Jahrzehnt sondern gegen höhere Kosten im nächsten Jahr.
Das Hemd ist näher als die Jacke.

Dringendste Sorgen

Die Menschen haben Angst vor ‚messerstechenden Ausländern‘? Dann müssen zügig Wege gefunden werden, Gewalttaten zu verhindern, egal, von wem sie verübt werden. Entweder klug und differenziert oder es wird halt ‚Ausländer raus‘. Aber es braucht echte, wirksame Lösungen, nicht nur romantische Bilder einer bunten Gesellschaft. Wenn es auf den Straßen Bandenkriege gibt, wählen selbst die ursozialdemokratischen Schweden rechts.

Die Menschen sorgen sich um steigende Preise. Dann braucht es schnell finanzielle Entlastung. Entweder eingewoben in verantwortungsvolle, zukunftsweisende Politik. Oder es gibt ein paar billige Köder an die Stammwählerschaft. Siehe FDP mit Schuldenbremse bei gleichzeitiger Steuerentlastung für Besserverdienende. Ich hab so meine Zweifel, dass das für Frieden sorgen wird.

Wenn die Menschen das Gefühl bekommen, dass sie in ihrem ganz persönlichen, nächsten Umfeld halbwegs sicher sind und dass sie sich auch nächstes Jahr noch ihr Brot und ihre Miete werden leisten können, dann beruhigt sich hoffentlich ihre innere Lage etwas.

Je weniger Angst Menschen haben, desto komplexer können ihre Gehirne denken. Und dann werden auch Themen wie Klimawandel, Gleichberechtigung oder Integration hoffentlich wieder mehr Raum bekommen. Und zwar ganz direkt in den Menschen selbst, nicht nur in den Hauptstadt-Medien.

Das Hemd ist näher als die Jacke.
Es hilft nix, so sind wir Menschen.

Ein Gedanke zu „Was Menschen wollen“

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