Vorgestern hab ich das Schicksal brutal herausgefordert. In meinem Kleiderschrank wird so einiges die nächste Wäsche endgültig nicht mehr überleben. Und nicht alles lässt sich sinnvoll online kaufen. Es hilft also nix. Auf ins Risiko!
Schon in gesunden Zeiten war Shopping Extremsport für mich. Aber nun läuft es überraschend gut, ich gehe in mehrere Läden. Sehr vorsichtig. Nah parken. Im Laden erst schauen, dann gehen. Und immer schön mit Sitzpausen dazwischen. In vielen Häusern stehen ja Sessel rum, auf denen anscheinend vorrangig die Ehemänner geparkt werden, damit sie nicht dauernd quengeln. ‚Der kleine Hans-Günter möchte im Bällebad abgeholt werden!‘
Mittags gönne ich mir eine leckere Pizza. Danach gehts weiter. Ich probiere eine Hoodie-Jacke an. Aber steht mir die Farbe? Irgendwie kommt mir auch der Schnitt am Bauch komisch vor. Ich mache mal ein Foto und überlege es mir lieber noch mal mit der Jacke…
Zuhause, als ich das Bild hochlade, fällt mir zweierlei auf:
- Eine Pizza, die man gegessen hat, ist immer noch da. Aber halt im Bauch. Liegt also wohl doch nicht nur am Schnitt der Jacke. :-))
- Und das ist das mieseste Foto, das ich jemals nach Hause gebracht hab! Die Farben sind vollkommen daneben und lassen sich auch fast nicht hinbiegen. Dabei machen die Smartphones heute doch sonst ganz brauchbare Fotos?
Nach langem Schrauben an unzähligen Reglern wird mir klar, dass das Problem gar nicht an der Kamera lag. Das Licht in der Kabine war so scheiße! Irgend eine super billige LED-Lampe mit grausligem Frequenzspektrum!
Die Läden wollen Kleidung verkaufen, und dann sieht man in der Umkleide aus, als hätte jemand die Sachen grundfalsch gewaschen und man noch dazu eine akute Lebensmittelvergiftung?
Nach Ausschöpfung so ziemlich aller Möglichkeiten meiner Software sieht das Foto jetzt halbwegs realistisch aus:
Das grüne Hemd hab ich mir gekauft. Ob mir die Farbe des Hoodies steht, weiß ich immer noch nicht. Mir gefällt halt der Farbkontrast zur blauen Jeans.
Psychologie
Das wirklich Erstaunliche ist: Die Aktion hat im Nachgang ordentlich was in mir in Bewegung gesetzt! Es war mir davor nicht bewusst gewesen, aber ich war schon in den typischen grau-beigen Alte-Leute-Modus gerutscht.
‚Ach, das ist doch noch gut.‘
‚Ich brauch doch nichts.‘
‚Lohnt sich was Neues überhaupt noch?‘
‚Ich muss ja für niemanden mehr schön sein.‘
‚Ich komm ja eh kaum noch unter Leute.‘
Klar, ein bisschen ist das auch Folge der Corona-Zeit, wo glaube ich sehr viele Menschen im Home Office entspannter geworden sind. Jogginghose reicht, alles unterhalb der Schreibtischplatte sieht man auf der Webcam ja eh nicht.
Aber es geht um mehr. Es ist die Frage, wie und wo ich mich in meinem Leben sehe. Und das schwankt heftig mit meinem Energielevel.
In schlechten Phasen fühle ich mich dem Tod näher als dem Leben. Da ist meine ganze Existenz fast nur ein Abwarten und Zeit totschlagen. Da fühle ich mich tatsächlich wie 90 und im Endspurt des Lebens. Was sollen da neue Klamotten?
In den guten Momenten sind wieder Lebenshunger, Neugierde und Freude an schönen Dingen da. Und Eitelkeit und Lust auf schnöden Konsum. Mensch halt.
Ich hüpfe zwischen zwei Welten hin und her. Ich wechsle zwischen 90 und 53 Jahre alt. Dazwischen liegen manchmal nur zwei Tage. Klar, auch an meinen besten Tagen bin ich in meinen Möglichkeiten krass limitiert. Aber nur wenig in meinen Wünschen, meiner Kreativität, meinem Humor, meinen Sehnsüchten.
Beide Zustände sind zum jeweiligen Zeitpunkt wahr. Nicht nur eine geistige Haltung, sondern physiologische Realität. Es fühlt sich an, als würde meine Seele zwischen zwei Körpern pendeln. In Zeiten von Zweitjobs, Zweitwagen, Zweitkonto, Zweitpartner*in ist das vielleicht ja sehr modern. Und dabei bleibt das Selbstbild schön beweglich. Ist halt nur anstrengend.
Jenseits von all diesen fundamentalen Überlegungen war es vorgestern einfach schön gewesen, mich mal wieder anders zu erleben. Als 53jähriger Grünschnabel. Und selbst wenn mich an vielen Tagen sonst eh niemand sieht – ich bin ja auch wer!