‚Physics Girl‚ nennt sich eine junge Youtuberin, die Phänomene und Grundlagen der Physik sehr unterhaltsam vermittelt. So was finde ich ja immer spannend, deshalb hab ich schon etliche ihrer Videos gesehen.
Seit einiger Zeit gibt es keine neuen Videos mehr. Sie ist letztes Jahr an Covid-19 erkrankt. Danach hat sich ihr Zustand immer weiter verschlimmert. Long Covid, alias ME/CFS. Sie kann heute nicht mehr schlucken, sich nicht mehr bewegen, nicht mehr richtig denken. Schwerster Verlauf. Ihr Mann und ihre Familie pflegen sie.
Das hat mich getroffen. Es gibt weltweit Millionen Menschen, die schon seit Jahrzehnten an ME/CFS leiden. Eine stille, unsichtbare Masse. Aber wenn öffentlich bekannte Menschen erkranken, manche komplett verschwinden, dann wirkt das auf mich genauso surreal wie bei mir selbst. Das kann doch nicht sein?!?
Dann muss ich daran denken, dass ich 1997 ja schon einmal einen Ausbruch des Pfeiffer-Drüsenfiebers hatte. Hätte ich das damals nicht so sorgfältig und geduldig auskuriert, wäre ich möglicherweise da schon an ME/CFS erkrankt.
Ich hätte die Bandproben, Studioaufnahmen, Konzerte aufgeben müssen, bevor wir unsere intensivste Phase hatten.
Ich hätte mich nicht im Finanzamt im EDV-Team austoben können.
Ich hätte nicht die Natur für mich wiederentdeckt, nicht die Radtouren und Wanderungen machen können.
Ich wäre nie nach Ghana, Irland, Thailand, Italien, Estland, Portugal gereist.
Ich hätte Kuschelpartys und Tantra nicht erlebt.
Ich hätte meine buchstäblich lebensverändernde Coachingausbildung niemals machen können.
Ich hätte meine spannenden Gehversuche mit der Selbständigkeit nie unternommen.
Ich hätte mich nie in einer Bürgerinitiative engagiert.
Ich hätte keinen Sport treiben können.
Ich hätte die wundervollen Paarbeziehungen nicht gehabt, in denen ich so viel genießen, lernen und erleben durfte.
In diesen gut 25 Jahren ist soo viel passiert, hat mich so vieles geprägt! Wenn ich das alles in einem Gedankenspiel mal aus meinem Leben raus rechne, bleibt das Gefühl einer gigantischen, absurden Leerstelle.
Da begreife ich mal wieder, wie viel ME/CFS nimmt. Wie wenig von einem richtigen Leben übrig ist, selbst bei mir als moderat Betroffenem. Was hätte ich in den letzten viereinhalb Jahren alles erlebt, wenn ich gesund geblieben wäre? Mir das auszumalen, ist schon hart!
Normalerweise atme ich dann tief durch. Ich schiebe den Gedanken beiseite und versuche, ganz im Moment zu sein. Und die Perspektive zu halten: Ich hab Freunde, komme gut zurecht, hab keine Schmerzen, keine finanziellen Sorgen.
Doch jetzt grade spüre ich die Leere, den Verlust. Ich werde traurig, fühle mich ohnmächtig, als würde mein Leben ohne mich langsam Richtung Horizont davon treiben, während ich im Nirgendwo gestrandet bin. Ein bisschen trifft das ja auch zu.
Vielleicht ist jetzt auch mal die Zeit gekommen, um zu trauern. Das lässt sich nicht ewig aufschieben…