Eine Kneipe. Ich trete ein. Das Licht ist gedämpft, im Hintergrund leise Musik. Ich rieche Reste von verschüttetem Bier auf dem Boden von letzter Nacht. Hinter dem langen Tresen links macht der Barkeeper sehr entspannt seinen Job. An den Tischen im Raum sitzen um diese Zeit noch nicht viele Gäste. Leises Murmeln und vereinzelte Wortfetzen schweben in der Luft. Nach hinten weitet sich der Raum zu einer Fensterfront. Sie öffnet den Blick auf eine ruhige Abendlandschaft. Blaue Stunde.
Was wird heute Nacht passieren? Wer wird hier auftauchen? Wie wird die Stimmung sein? Wie werden die Leute nach Hause gehen? Welche Folgen wird diese Nacht haben? Alles ist möglich! Das Spielfeld ist bereit…
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Clara ist die Tochter einer guten Freundin von mir. Sie flog vor etlichen Jahren mit ihrem Chor für ein Konzert in die USA. Als sie wieder zuhause war, zeigte sie ihre Handyfotos von den Menschen, die sie getroffen hatte, von den Orten, von ihren Erlebnissen. Bei einem ungewöhnlichen Bild blieb ich hängen: dem Foto einer fast leeren Kneipe. Ich sah hin und versank sofort in der Szenerie.
Seit sieben Jahren nun hängt dieses Foto bei mir an der Wand. Und bis heute staune ich. Mit der Zeit sind mir immer mehr Details aufgefallen:
Das tiefblaue Oberlicht links, wo man den kühlen Abendhimmel ahnt, im Kontrast zu den warmen Holztönen drinnen.
Rechts das rote Bild auf der hellgrünen Wand. Wieder ein perfekter Farbkontrast.
Die scharfen Reflexionen der Scheinwerfer gegenüber, eigentlich etwas, was man versucht zu vermeiden, was dem Raum aber optisch so viel Tiefe gibt.
Die Stühle an der Bar, denen meine Augen folgen, hin zu den Fenstern, hinaus in die Landschaft, zum Horizont.
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Es war wohl damals kein besonderer Moment gewesen. Ich hab jetzt extra noch mal nachgefragt, Clara hat heute kaum eine Erinnerung daran. Und doch ist für mich diese Fotografie große Kunst. Weil sie wirklich jedes mal, wenn ich drauf schaue, den Projektor startet für mein ganz eigenes Kopfkino…