Es ist immer wieder schwierig, gesunden Menschen zu vermitteln, wie das Leben mit ME/CFS funktioniert. Ich ringe ja selbst nach vier Jahren noch manchmal darum, es zu verstehen.
Gestern rief mich ein Freund an. Er wohnt weit weg, besitzt hier aber noch ein kleines Häuschen, das er vermietet. Jetzt hat sich offenbar das DSL-Modem im Keller aufgehängt und die Mieter haben kein Internet mehr. Aus verschiedenen Gründen können sie sich nicht selber drum kümmern. Ob ich schnell rüber fahren und das Modem resetten könne? Ich müsse dazu nur dort in den Keller runter, den Schlüssel finden, die Tür öffnen, evtl. Fahrräder beiseite schieben. Und er könne mich dabei am Handy führen.
Ich kannte das Haus nicht, konnte den Aufwand schlecht einschätzen. Ist da unten überhaupt Empfang? Ich war sehr skeptisch. „Ich schau halt mal, wie weit ich komme.“
Vor Ort war es dann ganz einfach. Handy funktionierte, ich hab alles gleich gefunden, kein Fahrrad im Weg, und vor dem Modem stand sogar ein Stuhl, auf dem ich gemütlich die zehn Minuten abwarten konnte, bis das Ding hochgefahren war. Danach funktionierte es zwar immer noch nicht, aber das muss dann wohl Vodafone lösen…
Als ich wieder zuhause war, kam mir ein Bild:
Für einen gesunden Menschen war das eine Mini-Aktion. Nichts, worüber man sich eine Sekunde den Kopf zerbrechen würde.
Jetzt variiere ich das Setting. Nicht realistisch, aber es ist ja nur ein Gedankenspiel:
Und zwar steht jetzt der gesamte Keller bis zur Decke unter Wasser! Du sollst da nun rein tauchen, um irgendwas zu reparieren. Keine Taucherausrüstung, also Luft anhalten. Vielleicht gibt es da unten irgendwo eine Luftblase, wo du zwischendurch atmen kannst, vielleicht aber auch nicht.
Unter Wasser zählt nun jede Sekunde. Die richtige Tür nicht gleich gefunden? In den falschen Gang getaucht? Ein Gegenstand steht im Weg und muss beiseite geschoben werden? Eine Tür klemmt? Alles kostet wertvolle Luftressourcen. An solchen Kleinigkeiten kann alles scheitern.
Wenn es irgendwie heikel wird, musst du deshalb sofort umkehren, egal wie kurz vor dem Ziel. Du musst ja immer auch noch den ganzen Weg wieder zurück tauchen! Riskierst du zu viel, ertrinkst du. Und du kannst auch nicht beliebig viele Anläufe machen, weil das Wasser eiskalt ist. Ein Extremjob für absolute Profis!
Das Leben mit ME/CFS liegt für mich etwa in der Mitte zwischen diesen beiden Settings, zwischen trockenem Keller und Apnoe-Höhlentaucher. Ich sterbe nicht gleich, wenn ich ein zu großes Risiko eingehe, oder wenn etwas Unvorhergesehenes dazwischen kommt. Aber ich kann einen Crash erleiden und dann wochenlang (oder für immer) noch schlechter dran sein.
Ich finde dieses Bild sehr gut. Ich muss an meinen Alltag tatsächlich heran gehen, als würde ich in einer Höhle apnoe tauchen. Wenn ich die Höhle sehr gut kenne und die Bedingungen optimal sind, kann ich an einem guten Tag einiges erledigen. Trotzdem bin ich da um ein Vielfaches begrenzter als ein gesunder Mensch an Land.
In einer fremden Höhle schrumpfen meine Optionen fast auf Null, wenn ich heil wieder raus kommen will. Ist nur eine der Ausgangsbedingungen nicht perfekt, muss ich absagen.
Es gibt eine beeindruckende Doku in der ARD-Mediathek über Anna von Bötticher, eine berühmte Apnoe-Taucherin. Sie ist darin – im Gegensatz zu mir ganz real, dafür aber freiwillig – in genau so einer Situation und gerät tatsächlich ans Limit.
Es ist verrückt: Im Grunde gehorcht das Leben mit ME/CFS ähnlichen Gesetzen wie Extremsport: Peinlich genaue Vorbereitung, absolute Selbstdisziplin, professionelles Ressourcenmanagement. Ein Leben ständig am Limit.
Nur dass man dabei sehr wenig erlebt. Ich glaube nicht, dass der Keller im Haus des Freundes jetzt meinen Namen trägt, weil ich da ohne Sauerstoffflasche drin war…
Disclaimer: Die Fotos wurden digital überarbeitet. Keinem echten Keller wurde Schaden zugefügt.
Na ein Glück hast du keinen Keller geflutet für die Fotos. Ich war schon kurz davor, dich beim Kellerschutzverein zu verpfeifen wegen Kellerquälerei 😉
Aber im Ernst: Der Vergleich der Alltags-Herausforderungen für ME/CFS-Kranke mit einem Tauchgang ist super. Für mich trifft er den Nagel auf den Kopf und ist für Nicht-Betroffene gut zu verstehen.
Sehr eindrücklich. Das schafft nochmal einen Einblick auf einer sehr anschaulichen und emotionalen Ebene.
Genau das wollte ich auch erreichen. 🙂