Montag vormittag. Seit über einer Stunde verfolge ich online die öffentliche Anhörung zu ME/CFS im Sozialausschuss des Baden-Württembergischen Landtags. In winzigen Schritten sickert das Wissen in die Systeme ein, dass diese furchtbare Krankheit tatsächlich existiert. Politik, Ärzte, Verbände und Institutionen tun sich zunehmend schwerer, andere Erklärungen zu finden für die vielen Long Covid-Fälle, die einfach nicht besser werden. Diesmal kann man nicht einfach alle Betroffenen als psychisch krank abstempeln und dann vergessen.
Doch die Beharrungskräfte sind enorm. Wer will schon zugeben, dass er sich die letzten Jahrzehnte geirrt und damit riesiges Leid unter den Patienten verursacht hat? Es sind krasse Fälle, die Betroffene und Angehörige in der Anhörung schildern. Kaum zu ertragen. Ich frage mich, woher die betroffenen Familien die Kraft nehmen, weiter zu kämpfen. Der pure Überlebenswille vermutlich.
Irgendwann während der Übertragung fällt mir ein leises Knacken auf. Wie wenn sich Material ausdehnt oder zusammen zieht. Oder wenn Wasser von der Decke auf den Parkettboden tropft. Das kommt nicht aus dem Lautsprecher. Ich gehe dem Geräusch nach, es kommt aus der Zimmerecke. Und dann sehe ich es:
Da ist etwas Zappelndes, Schwarzes nah am Boden. Ein Insekt, etwa so groß wie eine Biene. Und eine deutlich kleinere Spinne, die versucht, das Tier einzuspinnen. Ich hole die Kamera und filme. Es ist der Käfer, der so laut knackt. Immer, wenn der Oberkörper nach vorne schnellt.
Inzwischen hab ich recherchiert. Es war wohl ein Schnellkäfer. Durch einen Dornfortsatz an der Brust, den er spannen und dann los lassen kann, kann er sich bei Gefahr in die Höhe katapultieren. Diesem Käfer hat das allerdings nicht mehr geholfen.
Ein seltsames Erlebnis. In mir ist eine Mischung aus Neugierde, Jagdinstinkt (mit der Kamera) und Mitleid (mit dem Käfer). Wie kann ich da stundenlang zuschauen, und dann auch noch den Tod des Tieres filmen? Und hier zeigen? Es fühlt sich falsch an.
Und dann denke ich an die vielen Tierdokus früher: Geparden jagen Antilopen in der Serengeti. Entweder die Antilope stirbt. Oder der Gepard kann seine Jungen nicht durchbringen. Es können nicht beide leben. Dies ist nicht das Paradies, es ist die Realität der Natur. Der tägliche Kampf ums Überleben.
In der Natur wäre ich mit meiner Krankheit längst tot. Ich könnte nicht mehr rennen oder gegen Raubtiere oder andere Menschen kämpfen. Ich könnte nicht mehr jagen oder in andere Gegenden der Nahrung hinterher wandern. Zu meinem Glück haben wir Menschen die Fähigkeit erlangt, andere Regeln zu etablieren. Wir haben Moral erfunden (die wir allerdings ja nur teilweise anwenden). Wir haben Ärzte, Rente, Elektroroller, warme Wohnungen und Supermärkte um die Ecke, zumindest in meinem Fall.
Aber das ist nicht der Normalfall in der Welt. Das, was ich hier in dem Video dokumentiert hab, ist es: fressen oder gefressen werden. Die Natur ist nicht gnädig, sie hat keine Moral. Sie liebt das Leben insgesamt. Das Individuum hat als solches keine Bedeutung.
Wen hätte ich also retten sollen? Den Käfer oder die Spinne? Wäre es relevant, ob der Käfer als Nützling gilt oder als Schädling? Tatsächlich sind die Larven der Schnellkäfer als ‚Drahtwürmer‘ in der Landwirtschaft gefürchtet. Unter Tierfilmern gilt der Grundsatz, nicht einzugreifen, wenn die Natur am Werk ist. Allenfalls dann, wenn es darum geht, Fehler von uns Menschen wieder gut zu machen. Wahrscheinlich eine sehr weise Haltung…