Diese Geschichten. Das Biest, das in seinen luxuriösen Mauern eingesperrt ist und auf Erlösung von außen warten muss. Die Seelen, die als Geister umher irren, weil ihnen der Weg ins Jenseits versperrt ist. Die Zombies, nicht mehr am Leben, aber auch noch nicht tot. Der Limbus.
Ein bisschen fühle ich mich grade so. Vor drei Wochen hatte ich den letzten Crash. Seither ging es in Mikroschritten aufwärts. Gestern konnte ich den Kasernenplatz wieder zu Fuß umrunden. Ich bin ungefähr 1.000m weit gegangen. Bloß nicht übertreiben, ich will ja nicht den Impftermin nächste Woche gefährden!
Heute morgen hab ich Brot gebacken. Wegen der Hitze aus dem Herd hatte ich das Küchenfenster offen. Ich spülte grade eine Schüssel aus, als genau unter meinem Fenster ein Notarztwagen das Martinshorn einschaltete. Mörderschreck, ich schrie laut auf, dann spürte ich, wie mein System gaaanz langsam in Schieflage rutschte.
Ich hab ja inzwischen Erfahrung mit so was. Ich hab mich sofort hin gesetzt. Ich hab bewusst geatmet, die Anspannung über Zittern aus dem Körper geleitet, meditiert. Ein Stück weit konnte ich mich damit wohl abfangen.
Inzwischen ist es Abend. Da ist noch dieser Druck unterm Brustbein, das Atmen fällt etwas schwerer als normal, die Konzentration ebenfalls. Aber das war schon schlimmer. Hoffentlich noch mal gut gegangen, und ich kann morgen wenigstens ein bisschen was machen.
Nicht leicht, damit umzugehen. Ich brauche wochenlange Disziplin und genaue Selbstkontrolle, um wieder etwas auf die Beine zu kommen. Bloß kein Fehler, kein Leichtsinn! Jeder Millimeter rauf ist harte Arbeit. Runter gehts mit einem Fingerschnippen. Und manches kann ich trotzdem nicht verhindern.
Ist das noch Leben? Was ist der Sinn? Diese Fragen zwingen sich auf. Und ich darf sie nicht zulassen. Ich kann diesen Zustand nicht dauerhaft ertragen, wenn ich eine Perspektive suche. Mit jeder Art von Hoffnung züchte ich die nächste Enttäuschung. Besser den Blick vom Horizont nehmen und auf die fünfzig Zentimeter vor meinen Füßen zwingen. Jetzt grade kann ich atmen. Ich hab keine Schmerzen. Ich leide weder Durst noch Hunger. Ich friere nicht und bin nicht unmittelbar bedroht. Alles andere ist irrelevant. Das Leben hat einen Radius von fünfzig Zentimetern. Dann einen Schritt weiter. Und dann wieder warten, bis die Kraft für den nächsten Schritt da ist.
„Was ist jetzt?“ Das war die allererste Übung in meiner Coaching-Ausbildung: Was spüre ich jetzt grade? Was sehe ich? Was höre ich? Was denke ich? Was fühle ich? 100% Gegenwart. Wie ein Tier. So lange mir das gelingt, lebe ich. Sobald der Blick weiter nach vorne geht, entferne ich mich vom Leben. Dann sehe ich die ganzen Einschränkungen und Defizite, die mich behindern. Dann kommt die Sehnsucht nach einem Ort, wo ich nicht sein kann. Nach einem Leben, das ich nicht mehr habe. Dann werde ich zum Geist, zum Zombie.
Ein Schritt nach dem anderen. Fünfzig Zentimeter.
Und wer weiß – vielleicht kommt doch irgendwann die Schöne vorbei, die mich aus meinen Mauern erlöst. Ich darf nur nicht zu sehr drauf hoffen. Siehe oben. Aber wenn diese Schöne kommt, dann heißt sie wahrscheinlich Prof. Dr. med. Carmen Scheibenbogen. Dieses Bild sollte ich ihr vielleicht mal zukommen lassen. 🙂
Lieber Klaus,
es ist erstaunlich: Schon wieder haben wir zur selben Zeit das selbe Thema. Auch ich bin nach langer Aufwärtsphase gecrasht und bewege mich gerade zwischen Enttäuschung, Hoffnung und mir die Hoffnung verbieten. Auch schwanke ich zwischen Akzeptanz und Selbstvorwürfen bezüglich meines Verhaltens, das zu dem Crash geführt hat. (Es ist so frustrierend, wenn man seinen Lebenshunger dermaßen an die Zügel nehmen muss.) Und ich ringe wie du darum, mit meiner Aufmerksamkeit in der Gegenwart zu bleiben, um mich nicht vom tatsächlich möglichen Leben zu entfernen. Für einen Blogbeitrag zum Thema „hoffen oder besser nicht?“ hat in den letzten Tagen meine Energie noch nicht gereicht.
Aber eigentlich ist mir weniger nach philosophieren sondern eher nach einer tröstlichen Umarmung…
Lieber Stefan,
das ist einfach eine Scheiß-Krankheit. Fühl dich fest umarmt!
Klaus