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Supermarkt

Schwierige Prognosen

Ich bin im Schwarzwald aufgewachsen, und das prägt. Wenn es mir irgendwie möglich ist, gehe ich raus, wenigstens eine Runde um den Block. Im letzten Jahr klappte das etwa an zwei von drei Tagen, und dann waren es jeweils Spaziergänge zwischen 300 und 1.000 Metern. Das war nicht weit, das hat sich manchmal trotzdem am nächsten Tag gerächt, und doch war es sooo gut, die eigenen Beine zu spüren und kurz als ’normaler‘ Mensch draußen zu sein.

Seit etwa zwei Monaten geht es bei mir gesundheitlich etwas aufwärts. Ich konnte meine Spaziergänge steigern, gestern auf 2,1 km, ohne dass ich heute im Bett liege. Das klingt nicht spektakulär. Aber das bedeutet, dass ich seit ziemlich genau zwei Jahren zum ersten mal wieder zu Fuß in den Supermarkt gehen und einkaufen kann. Das ist ein Meilenstein!

Ich erinnere mich gut an den letzten Gang zum Edeka im Mai 2019. Es war warm und sonnig. Auf dem Rückweg (etwa 400m lang) musste ich mich drei mal hinsetzen. Das war der Tag, als ich begriffen hab, dass ich schwer krank bin. Dass das nicht einfach von selbst wieder verschwinden wird. Dass ich nicht mehr arbeiten kann. Dass ich Hilfe brauche. Ich hab dann, zusammen mit Katrin, den Rollstuhl besorgt, und alles Weitere nahm seinen Lauf.

Seither hab ich mich oft gefragt: Wie würde das sein, wenn ich wieder zu Fuß einkaufen könnte? Was für ein gewaltiger Triumph wäre das? Wie würde ich das feiern?

Als sich in den letzten zwei Wochen andeutete, dass das bald eintreten könnte, kam mir eine Idee: Ich könnte ein Video dazu drehen und hier auf die Seite stellen. Eine Persiflage auf Abenteurer-Dokus, youtube-Kanäle von Naturfotografen und den ganzen Instagram-Selfie-Kult. Ich hab einige Szenen gefilmt. ‚Ich beim Sport‘ (liege auf dem Rücken auf dem Boden und wackle mit den Beinen), ‚ich beim Mentaltraining‘ (ich meditiere im Bademantel, spiele was asiatisch klingendes auf der Blockflöte), ‚ich beim Packen‘ (Karte, Kompass, Wasser, Stirnlampe) und so weiter. Ich fand die Idee witzig. Aber je mehr ich daran gearbeitet hab, desto weniger hat das für mich gestimmt.

Wie würde das auf die anderen ME/CFS-Kranken wirken, die nicht so viel Glück haben wie ich? Und würde das nicht das öffentliche Klischee bestärken, dass ME/CFS nur so eine Art von Formtief sei? Und so hab ich beschlossen, das Video bleiben zu lassen.

Ja und jetzt sitze ich hier, schreibe diesen Beitrag. Und in mir ist es ganz ruhig. Ich war vorhin tatsächlich zu Fuß einkaufen, sogar mit ordentlich Einkäufen im Rucksack, keine Probleme mit den Beinen. Und es fühlte sich schlicht so an wie früher. Ganz normal. Kein Triumph, kein Jubilieren. Nur Zufriedenheit, das Gefühl, vieles richtig gemacht zu haben, und stille Zuversicht, dass es weiter aufwärts gehen könnte. Und das ist auch in Ordnung so.

Es ist so schwer, voraus zu sehen, wie man in einer Situation empfinden wird. Da nimmt mir eine schwere Krankheit den größten Teil meines alten Lebens. Und trotzdem geht es mir emotional gut. Das hätte ich vorher nicht für möglich gehalten. Und manchmal reicht ein einziger Satz, z.B. eines bei ME/CFS völlig ahnungslosen Arztes im Fernsehen, um mich in ohnmächtige Wut zu jagen und mein inneres Gleichgewicht zu ruinieren.

Weder das Leben, noch Gefühle sind vorhersehbar. Wir stellen uns vor, wie etwas auf uns wirken könnte. Aber wenn wir dann tatsächlich in der Situation sind, kann sie sich ganz anders anfühlen. Jeder Moment ist auf seine Art neu und besonders. Ich versuche, mir das zu merken. Wenn ich mal wieder zuhause sitze und mir langweilig ist…

2 Gedanken zu „Schwierige Prognosen“

  1. Lieber Klaus!
    Scheinbar Selbstverständliches wird auf einmal zu einem Geschenk. Ich hab beim Lesen die ganze Zeit vor mich hin gelächelt! Was für wunder-volle Neuigkeit. Freu mich sehr!!

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